Die Vorschulkinder haben Pause, umringen den Lehrer George Oloibor, der mit ihnen Späße macht. Oloibor ragt mit seinem weißen, kurzärmeligen Hemd über die Bande der kleinen Jungen und Mädchen hinaus, er ermuntert sie zum Singen. Und zwar in Maa, der Sprache der Massai, ihrer Muttersprache. Die Schule liegt im Süden von Kenia, etwa 80 Kilometer von der Hauptstadt Nairobi entfernt, mitten im traditionellen Siedlungsgebiet dieser Volksgruppe.
Oloibor schlägt den Kindern als nächstes ein Lied in Kisuaheli vor. Auf Maa bittet er eins von ihnen, den Text in der Fremdsprache erst einmal vorzusprechen. Darin werden die Esel bedauert, weil sie keine Hörner haben, nur lange Ohren als einen schlechten Ersatz.
Weitere Teile der Reihe "Die Politik von Sprachen"
Oloibor ist in Kenias südlicher Provinzregierung Kajiado für den muttersprachlichen Unterricht zuständig. Seit 2017 können Schulen im Land ihn anbieten, verpflichtend ist das aber nicht. Oloibor ist mit Maa groß geworden, spricht außerdem Kisuaheli und Englisch. Er brennt dafür, afrikanischen Sprachen zu verbreiten:
„Unsere Sprachen sind ebenso wichtig, wie jede andere Sprache auf der Welt. Wie Portugiesisch oder Niederländisch oder Chinesisch – egal welche. Was uns fehlt ist nur der Glaube an uns selbst und an die Bedeutung unserer Sprachen.“
„Sprachen“: Der Plural dabei ist in afrikanischen Ländern wichtig. Rund 70 werden in Kenia gesprochen, bei einer Bevölkerung von 55 Millionen Menschen. Für afrikanische Verhältnisse ist das noch wenig: Südlich der Sahara werden etwa 2.000 unterschiedliche Sprachen gesprochen, über eine Milliarde Menschen kommunizieren in einer davon.
Welche Bedeutung hat Sprache?
Das führt zu Oloibors zweitem wichtigen Stichwort: der Bedeutung. Wer oder was entscheidet, welche Bedeutung eine Sprache hat? Wie leben die Menschen im Alltag mit der Vielfalt? Und welche Bedeutung hat sie bei der Festigung politischer Macht?
Das koloniale Erbe spielt dabei eine wichtige Rolle. In der Sprachpraxis hat sich die Bevölkerung allerdings in vielen Bereichen davon emanzipiert.
Die 25-jährige Susan Lentitik hat zwei Kinder, ihr älterer Sohn geht in Kajiado in die Vorschulklasse, dort lernt er in Maa. Lentitik findet das gut. Ihr Sohn verstehe den Unterrichtsstoff dadurch viel schneller und lerne lieber, als sie selbst in den ersten Schuljahren:
Wow, das war eine harte Zeit für mich! Zu Hause haben wir Maa gesprochen. Dann wurde ich eingeschult, und von einem Tag auf den anderen sollte ich Englisch sprechen.
"Im Unterricht habe ich am Anfang kein Wort verstanden, ich habe nur versucht zu kopieren, was die anderen gemacht haben. Ich habe mich durchgebissen, bis ich etwas verstanden habe – es bleibt einem ja nichts anderes übrig." Lentitik freut sich also, dass ihr Sohn es leichter hat. Die UN-Kulturorganisation Unesco bestätigt in zahlreichen Studien, dass die Muttersprache der Schüssel zu erfolgreichem Lernen ist.
Aber Susan Lentitik sieht auch die Tücken am muttersprachlichen Unterricht: „Für die Einheit einer Nation kann das Probleme schaffen. Wenn die Leute lauter unterschiedliche Sprachen sprechen, können sie einander nicht mehr verstehen. Und für welche Sprache soll man sich im muttersprachlichen Unterricht entscheiden? In unsere Schule zum Beispiel gehen ja nicht nur Massai-Kinder. Die Eltern aus den anderen Volksgruppen werden sagen: Warum wird nicht in Kamba gelehrt? Oder in Kikuyu? Viele von ihnen werden sich dem Unterricht in der anderen Sprache widersetzen.“
Vor allem in den Städten ist es schwer, zu einer Einigung zu kommen. Dort findet der sogenannte muttersprachliche Unterricht dann meist auf Kisuaheli statt.
Suaheli, Suahili, Kisuaheli oder Swahili meinen dieselbe Sprache
Jane Bosibori Marando Obuchi ist – wie Oloibor - eine glühende Verfechterin des muttersprachlichen Unterrichts. Sie unterrichtet Englisch und Kisuaheli an der Universität von Eldoret, außerdem schreibt sie Kinderbücher und Novellen in Englisch und in ihrer Muttersprache Ekegusi. Darüber hinaus überträgt sie europäische und afrikanische Literatur in ihre Muttersprache, Shakespeares „Romeo und Julia“ zum Beispiel, oder Chinua Achebes „Things Fall Apart“, auf Deutsch: „Alles zerfällt“.
Auch ihren eigenen Namen übersetzt sie: „Bosibori bedeutet in meiner Muttersprache „Freiheit“ oder „die Fähigkeit, Rinder von ihren Fesseln zu befreien“. Marando ist der Name einer Pflanze, die ihre Wurzeln tief und weit ausbereitet. Obuchi bedeutet „Überfluss“. Sie sehen also, dass meine Namen Bedeutungen haben. Es macht mich stolz, dass sie jedem zeigen, was meine Muttersprache ist: Ekegusi.“
Gesprochen wird sie vom Volk der Abagusi, zu dem etwas mehr als zwei Millionen Menschen gehören und das traditionell im Westen Kenias lebt. Obuchi möchte verhindern, dass Ekegusi ausstirbt. Deshalb schafft sie durch ihre Übersetzungen Unterrichtsmaterial und tradiert die Lieder ihres Volkes.
Dass Obuchi ihre Muttersprache möglichst häufig spricht und Literatur in Ekegusi schreibt, ist für sie ein Prozess der Selbstermächtigung. Denn ihre Erfahrungen als Schülerin unterscheiden sich deutlich von denen der kleinen Kinder in Kajiado: „Damals hatte Ekegusi keine Wertschätzung. Wenn ein Kind dabei erwischt wurde, dass es in der Schule Ekegusi sprach, wurde es bestraft.“
Während der britischen Kolonialzeit galten kenianische Sprachen als rückständig. Als Jane Obuchi 1977 eingeschult wurde, war Kenia schon seit 14 Jahren von Großbritannien unabhängig. Doch viele Haltungen und Hierarchien aus der Kolonialzeit hätten sich im Gebrauch der Sprachen zementiert, meint Obuchi: „Die koloniale Haltung gegenüber den afrikanischen Sprachen gibt es bis heute. Jedem, der fließend Englisch spricht, wird mit großem Respekt begegnet. Aber wenn ich bei Zusammenkünften Ekegusi oder Kisuaheli spreche, denken alle, dass ich nicht in der Schule war. Wer Englisch kann, gilt automatisch als gebildet. Sogar einige meiner Freunde machen sich über mich lustig, weil ich Bücher in meiner Muttersprache schreibe.“
Neben der Verachtung für das Eigene gibt es einen zweiten Grund dafür, dass afrikanische Regierungen zum Teil bis heute versuchen, die Sprachenvielfalt in ihren Ländern zu unterdrücken. Und stattdessen Englisch, Französisch oder Portugiesisch fördern. Obuchi nimmt Kenia als Beispiel:
Einige Leute argumentieren, dass wir als Nation keine Einheit bilden können, wenn wir so viele Sprachen sprechen, wie wir Volksgruppen haben. Sie sind davon überzeugt, dass wir auf diese Weise nur ethnische Konflikte schüren.
Gewalt zwischen den Volksgruppen in Kenia
Tatsächlich brechen entlang der ethnischen Linien immer wieder bewaffnete Konflikte auf. Kenia selbst ist ein Beispiel. Im Zusammenhang mit politischen Wahlen kam es wiederholt zu schwerer Gewalt zwischen unterschiedlichen Volksgruppen.
Dazu meint Rose Marie Beck, Afrikanistin in Leipzig mit dem Forschungsschwerpunkt Sprachen: „Politiker benutzen diese sprachliche Heterogenität natürlich zu ihren eigenen Zwecken, um auch ethnifizierte Politik zu machen. Das lässt sich auch nicht leugnen. In Kenia konnte man jetzt gerade wieder bei den letzten Wahlen sehen im August, dass man sehr große Angst hatte, dass wieder die beiden Haupt-Kontrahenten ihre Anhängerschaft, die zu einem Teil zumindest ethnisch ist, dass die sozusagen sich wieder blutige Schlachten liefern könnten. Das konnte man verhindern. Das ist aber nicht unbedingt der Sprachpolitik oder der Sprachverwendung zu verdanken, sondern den Themen. Das heißt, man kann hier ganz deutlich sehen, dass Sprache als Identitätsmarker seine Bedeutung verliert oder verloren hat. Und das sehen wir in sehr vielen afrikanischen Staaten, dass das der Fall ist.“
Was aber ist mit dem Krieg in Kamerun, der bereits tausende Menschenleben forderte? Dort sprechen die Konfliktparteien nicht unterschiedliche afrikanische Sprachen, sondern Englisch beziehungsweise Französisch. Welche Rolle spielt Sprache in diesem Krieg?
Patrice Nganang bekommt fast täglich Videos mit Gewaltszenen aus Kamerun auf sein Handy, Freunde und Bekannte versorgen ihn mit Nachrichten über den Krieg. Meist quält der Anblick den Schriftsteller und Germanisten, der aus Kamerun stammt und seit 2000 in den USA lebt. Immerhin, am 1. Oktober 2022, sieht er in den Videos keine Leichen oder brennende Dörfer, sondern feiernde Milizionäre in Tarnuniform: Auf den Tag genau vor fünf Jahren erklärten Separatisten die Unabhängigkeit der beiden englischsprachigen westlichen und nordwestlichen Provinzen Kameruns von der französischsprachigen Zentralregierung. Begonnen hat der Aufstand mit der Forderung anglophoner Juristen und Lehrkräfte, Englisch in Gerichtssälen und Schulen nutzen zu dürfen.
4.000 Tote, 700.000 Vertriebene in Kamerun
Die Zentralregierung geht mit militärischer Gewalt und äußerster Härte gegen die Separatisten vor. 4000 Menschen wurden in diesem Krieg schon getötet, 700.000 aus ihren Dörfern vertrieben. Bei dem Konflikt, sagt Nganang, geht es nur oberflächlich um Sprache:
„Eine Sprache ist auch eine Struktur. Das englische Gerichtssystem ist einfach anders. Es ist nicht das deutsche, es ist nicht das französische. Und das sind Sachen, die bleiben, nachdem die Kolonialherren weggegangen sind.“
Im Kern, sagt Nganang, geht es bei dem Krieg um Macht, deren Verteilung in der Sprache festgeschrieben ist. Der französisch geprägte Zentralstaat wolle nichts davon abgeben, verweigere die Reform in einen Bundesstaat, und damit einen Weg zum Frieden.
Die Mehrzahl der afrikanischen Staaten hat sich bei der Unabhängigkeit dafür entschieden, die von der jeweiligen Kolonialmacht eingeführte europäische Sprache zur offiziellen Landessprache zu machen, um die Einheit der Staaten nicht zu gefährden. Denn diese Einheit ist bis heute zerbrechlich, schließlich wurden die Landesgrenzen von den europäischen Kolonialmächten gezogen, ohne auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen.
Tansania, Kenias Nachbar im Süden, ist in seiner Sprachenpolitik einen konsequent anderen Weg gegangen. „Also tatsächlich war es ja in den 60er Jahren, als im Zuge der Unabhängigkeit Tansanias das Swahili als offizielle Sprache eingeführt wurde, war genau das ja das Kernargument zu sagen: Wir wollen dekolonisieren, wir wollen nicht am Englischen festhalten“, sagt der Afrikanist Axel Fanego Palat, der in Frankfurt am Main einen Lehrstuhl hat.
Fanego Palat untersucht vor allem die Verwendung von Sprachen in Süd-und Ostafrika – und damit auch in Tansania: „Gleichzeitig hatte man den ja vielleicht günstigen Ausgangsfall, dass man mit dem Suaheli eine Sprache hatte, die keine zu große Muttersprachen-Sprechergesellschaft hatte. Also es gab gar nicht so viele Muttersprachensprecherinnen und -sprecher, so dass die Sprache gewissermaßen für andere Menschen im Land akzeptabler war.“
Die vergleichsweise gefestigte nationale Einheit Tansanias ist allerdings nicht nur durch eine geglückte Sprachenpolitik zu erklären. Sondern auch durch die sozialistische Idee, die der erste tansanische Präsident Julius Nyerere nach der Unabhängigkeit stark förderte. Sie spielt bis heute eine wichtige Rolle.
Veränderung der Sprache und Sprachpraxis
Die Afrikanistin Rose Marie Beck warnt ohnehin vor einer allzu europäischen Brille beim Blick auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Nation: "Es ist tatsächlich so, dass wir heute sehr viele solcher ethnischen Gruppen in einem Nationalstaat haben. Die afrikanischen Staaten hatten aber bei der Unabhängigkeit auch keine andere Möglichkeit, als auf dieses nationalstaatliche Modell zurückzugreifen, um in den Völkerbund aufgenommen zu werden und global funktionieren zu können.“
Der Völkerbund war eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Genf, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand.
In Afrika, wie überall anders auch, verändern sich die Sprachen und die Sprachpraxis. Häufiger als früher ziehen Menschen innerhalb der afrikanischen Länder um, migrieren in die Städte, heiraten Mitglieder anderer Volksgruppen.
Afrikanistin Rose Marie Beck: „Selbst in den kleinen Dörfern wachsen Kinder mit vielen Sprachen auf. Und dann stellt sich die Frage: Was ist jetzt die Muttersprache? Und dann müssen wir zweitens feststellen, dass das, was wir glauben, was eine afrikanische Sprache ist, in den allermeisten Fällen nichts mit der Sprachpraxis zu tun hat. Wir können das gerade in großen Städten sehen. Ich nehme als Beispiel Kapstadt, wo afrikanische Kinder oder Kinder mit einem afrikanischen Hintergrund mit vielen verschiedenen Sprachen konfrontiert sind und die fließend sprechen, die haben überhaupt kein Verständnis davon, kein Alltagsverständnis davon, dass sie irgendwie Zulu oder Xhosa oder Afrikaans oder Englisch mischen. Und dann kommen sie in die Schule und sind plötzlich damit konfrontiert, dass das, was sie eigentlich im Alltag tun und mit dem sie sich unterhalten, nicht irgendeinem Standard entspricht.“
Im Fluss sind auch die ehemaligen kolonialen Sprachen, längst wurden lokale Varianten entwickelt, die sich laufend weiter verändern: „Fluide Sprachpraxis“ nennt das Rose Marie Beck. Längst gibt es nicht nur ein Englisch sondern viele, dasselbe gilt für Französisch und Portugiesisch.
Sprache wird also ständig gestaltet, an neue Kontexte angepasst. Meist mit dem Ziel der Verständigung, häufig auch aus anderen Gründen, sagt Fanego Palat: Ganz oft dient Sprache auch genau dazu, exklusiv zu sein, sich nicht zu verständigen, sondern tatsächlich auch sich abzugrenzen. "Um die eigene Gruppe tatsächlich, ich will nicht sagen zu isolieren, aber als eigene Gruppe auch noch nach außen zu markieren.“
Französisch als Abgrenzung für die politischen Eliten
Das gilt in vielen Staaten für die politischen Eliten, sie sich bewusst abgrenzen wollen, um ihre Macht zu sichern. Ein Beispiel dafür ist das westafrikanische Mali, Französisch ist dort die offizielle Landessprache. Die malische politische Elite nutzt die ehemalige Kolonialsprache, um sich von der Bevölkerung abzugrenzen.
Ousmane Sy, malischer Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Minister für Territorialverwaltung, erklärt so die Entfremdung zwischen Staat und Volk in Mali. Das westafrikanische Land ist seit gut zehn Jahren in einer schweren politischen Krise, seit März 2012 hat das Militär drei Mal geputscht, zuletzt unter dem Beifall der Bevölkerung. Das westafrikanische Ausland und Europa forderten nach jedem Putsch eine Rückkehr zur Demokratie.
Die Bevölkerung fragte: Was für eine Demokratie? Das Volk hatte seit der Unabhängigkeit nicht den Eindruck gehabt, dass die Macht tatsächlich von ihm ausgehe. Dazu der ehemalige Minister Ousmane Sy: „Weil der Staat, so wie er bisher in unseren Ländern konzipiert und installiert wurde, als Fremdkörper betrachtet wird. Der Staat spricht eine andere Sprache als die Bevölkerung. Der Staat hat andere Werte als sie. Der Staat handelt anders als sie.“
Große Teile der malischen Bevölkerung sind Analphabeten, verstehen kein Französisch, kommunizieren in den Landessprachen. Sie können die Gesetze ihres Landes nicht lesen, die Debatten ihres Parlaments nicht verstehen.
Sprache wird also auch in Afrika in manchen Staaten und von manchen Eliten als Hebel eingesetzt, um Macht auszuüben, zu zementieren und andere Gruppen auszuschließen.
Durch diesen Zusammenhang zwischen Sprache und Macht ist der Kontinent für Konflikte allerdings nicht grundsätzlich anfälliger, als andere Weltregionen. Ganz im Gegenteil ist der Umgang mit der Sprachvielfalt meist ausgesprochen pragmatisch und oft gekennzeichnet von großer Kreativität.
Author: Ronald Harris
Last Updated: 1703198762
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